Zu spät. Mitte März hat sich die Europäische Kommission nach langem Zögern damit abfinden müssen, sich auf die noch nie genutzte « allgemeine Ausnahmeklausel » zu berufen, die erlaubt, die Sparpolitiken in den EU-Ländern auszusetzen. Die Staaten dürfen grenzenlos Ausgaben tätigen. Das ist das Einzige, was Brüssel richtig machen konnte: keine Überwachung mehr, keine Drohungen, keine Sanktionen – mit einem Wort: Klappe halten.
Aber der Schaden ist bereits da. In den dreiundzwanzig Jahren seines Bestehens war der Stabilitätspakt eine Massenvernichtungswaffe gegen die öffentlichen Ausgaben der Mitgliedstaaten, wobei die öffentlichen Dienste an vorderster Front stehen. Daher die tragische Katastrophe im Bereich der öffentlichen Gesundheit.
In Frankreich zum Beispiel wurde die Zahl der Krankenhausbetten pro Einwohner in drei Jahrzehnten halbiert. Weder Chaos, Panik noch Ausgangssperre wären entstanden, wenn das Land genug Masken, Tests, Beatmungsgeräte und Personal gehabt hätte – anders gesagt, wenn die Regierung und alle ihre Vorgänger, die der europäischen Logik verpflichtet waren, die Anforderungen des öffentlichen Krankenhaussystems berücksichtigt hätten, anstatt es platt zu walzen.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass sich Italien im Herzen des Corona-Zyklons befindet. Die Wochenzeitung Freitag erinnerte kürzlich daran, wie die EU 2011 von Rom verlangte, die Kapazitäten im Gesundheitswesen um 15 Prozent zu kürzen. Gerade als Brüssel den als zu weich geltenden Silvio Berlusconi durch den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti ersetzte.
Die Siebenundzwanzig, die durch den doppelten Tsunami im Gesundheits- und Wirtschaftsbereich in Panik gerieten, setzten also ihre Sparmaßnahmen aus. Aber für wie lange? Ohne Stabilitätspakt als Korsett kann der Euro nicht lange durchhalten.
Neben dem Euro ist der Schengen-Freizügigkeitsraum die zweite Säule, die traditionell von den EU-Prominenten gefeiert wird. Bereits durch die Migrantenkrise erschüttert, wackelt er nun in seinen Grundfesten. Innerhalb weniger Tage haben nicht weniger als fünfzehn Länder – darunter auch die Bundesrepublik – die Kontrolle über die so genannten « inneren » Grenzen wiedererlangt oder diese sogar abgeriegelt und damit die heiligsten Regeln mit den Füßen getreten. Der französische Präsident gehörte zu denjenigen, die bis zum 12. März sagten, dass diese offen bleiben sollten. Einige Tage später beschloss er dann mit seinen Amtskollegen, die so genannten Außengrenzen zu schließen. Ein merkwürdiger Virus, der einen Unterschied zwischen den Ländern, die Mitglieder des europäischen Clubs sind, und den anderen, zu machen scheint…
In der allgemeinen Auflösung verordneten Paris und Berlin, dass die wertvollen Schutzmasken in erster Linie ihren nationalen Gesundheitsdiensten gewidmet werden sollten – ein logischer Reflex, der zeigt, dass der Nationalstaat als der Schutzrahmen schlechthin verankert bleibt, ein Reflex, der aber Brüssel in Trance versetzte – während Prag die von China nach Italien gesandten Masken klaute. Italien, dem die EU ihr Beileid entgegen brachte, während Peking, aber auch Russland und Kuba, Ausrüstung, medizinisches Personal und militärische Logistik zur Verfügung gestellt haben… In den sozialen Netzwerken der Halbinsel schwirren Millionen von Nachrichten mit einer einzigen Idee herum: Wir werden uns daran erinnern. Der Außenminister, Luigi di Maio, hat nichts anders gesagt.
Jacques Delors gibt zu, dass die EU « in Todesgefahr » ist, während der französische Präsident befürchtet, dass « das Überleben des europäischen Projekts auf dem Spiel steht »
Für die Anhänger der europäischen Integration, die mit Schrecken in den letzten Wochen zu erkennen begannen, dass der Brexit ein Erfolg werden könnte, konnte es kein schlimmeres Szenario geben. Die sehr pro-europäische Tageszeitung Le Monde räumte in einem Leitartikel (20.03.20) ein, dass « das ‚jeder für sich selbst’, das sich jetzt in der EU entfaltet, nichts hat, das die Briten bereuen lassen kann« , den Block verlassen zu haben. Emmanuel Macron seinerseits sprach am 12. März von einer zukünftigen « Reflexion über einen Modellwechsel« , bei dem es notwendig sei, « die Kontrolle wiederzuerlangen« . Ironischerweise ist dieser Ausdruck genau eine wörtliche Übersetzung des zentralen Mottos der Brexiter… Auch wenn sein Aufruf, « ein Frankreich, ein souveränes Europa aufzubauen » (was in sich widersprüchlich ist: zwei konkurrierende Souveränitäten können nicht zusammenleben), seine weitere Verbundenheit mit dem Dogma bestätigt.
Aber die Angst wächst in der EU-Chefetage. Während das berühmte deutsch-französische Paar vom Radar verschwunden ist, alarmierte Le Monde am 28. März erneut: « Die EU spielt um ihr Überleben« . Kurz zuvor sprach der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire von einem entscheidenden Test für die EU. Zwei Tage später gab Jacques Delors – der uralte Held der EU-Anhänger – zu, dass die EU « in Todesgefahr » sei. Diese Befürchtung wurde vom französischen Präsidenten wiederholt, der der Ansicht ist, dass « das Überleben des europäischen Projekts auf dem Spiel steht« .
Eine Epidemie kann eine andere verdecken. Eine viel erfreulichere.