Historisch. Ausnahmsweise wird der Begriff diesmal nicht übertrieben. Am Abend des 31. Januar wird das Vereinigte Königreich die Europäische Union juristisch verlassen haben. Mit dem Fall der Berliner Mauer – jedoch in umgekehrter Richtung – ist dies wahrscheinlich das wichtigste europäische Ereignis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Schon seit dem Referendum und trotz einer unglaublichen Reihe von Fallstricken gab es eigentlich keinen Zweifel an seiner Verwirklichung.
Die Frustration erfasste all jene, die bis zum Ende die Illusion hatten, den Prozess durch parlamentarischen Guerillakrieg und Druck aus Brüssel noch zum Scheitern bringen zu können. Wenige Tage vor den entscheidenden Wahlen am 12. Dezember, die in eine Volksabstimmung zugunsten des Brexit mündeten, behaupteten einige EU-Anhänger noch immer, dass dank der jüngsten massiven Eintragung junger Menschen in die Wählerlisten die Wahl vom 23. Juni 2016 widerrufen werden könnte.
Ein grausames Paradoxon für die Anhänger Europas: Der Zermürbungskrieg, den die EU-freundlichen Abgeordneten in Westminster führten, blockierte das im November 2018 zwischen Brüssel und Theresa May unterzeichnete Abkommen, obwohl letztere in diesem Text angenommen hatte, Zugeständnis auf Zugeständnis machen zu können. Hingegen erkämpfte erfolgreich ihr Nachfolger – mit der Behauptung, dass Großbritannien « egal was, mit oder ohne Abkommen » herauskommen würde – für einen viel schärferen Vertrag, der in Wirklichkeit einen « härteren » Brexit darstellt. Darüber hinaus schloss Johnson die Möglichkeit aus, dass die Verhandlungen zur Festlegung des Rahmens für die künftigen bilateralen Beziehungen zu einer automatischen « Anpassung » an die Regeln der Siebenundzwanzig führen werden.
Natürlich bedeutet der Austritt aus der EU keineswegs, dass eine fortschrittliche Politik automatisch zustande kommt. Aber das austretende Land erlangt die Freiheit wieder, sich dafür zu entscheiden
Natürlich bedeutet der Austritt aus der Europäischen Union keineswegs, dass eine fortschrittliche Politik automatisch zustande kommt. Aber – und das ist natürlich das Wichtigste – das austretende Land erlangt die Freiheit wieder, sich dafür zu entscheiden. In dieser Hinsicht könnten die Signale, die aus London kommen, schlimmer sein. Eine der ersten Entscheidungen der « Volksregierung » (wie Herr Johnson es nennt) war die Anhebung des Mindestlohns um 6,2% – ein Rekord.
Der Regierungschef sagte, er würde nicht nach Davos gehen, « weil es dringenderes zu tun gibt, als mit den Milliardären zu trinken ». Demagogisch? Vielleicht. Aber sollte man sich auch über ein Programm lustig machen, das sich verpflichtet, massiv in öffentliche Dienstleistungen (vor allem im Gesundheitswesen) und Infrastrukturen (vor allem im Eisenbahnbereich) wieder zu investieren und die Prioritäten zugunsten der am stärksten benachteiligten Regionen neu auszubalancieren? Der Premierminister hat sogar gerade eine Fluggesellschaft gerettet, deren Bankrott viele regionale Routen aufgegeben hätte. Eine Entscheidung, die gegen die EU-Regeln verstößt – und auch ein « Verrat am Thatcherismus », so die konservative Tageszeitung The Telegraph.
Ist Boris Johnson zum Bolschewismus konvertiert? Es ist wenig wahrscheinlich. Aber anstatt der Arbeiterklasse unmittelbar nach seinem Sieg den Rücken zuzuwenden, plant er wahrscheinlich, sich langfristig in dieser Wählerschaft zu verankern und dabei die Kluft zwischen den Arbeitern und einer « Linken », die sich der EU und offenen Grenzen angeschlossen hat, zu nutzen.
Also, ein Land kann aus der EU herauskommen, ohne in der Hölle zu schmoren…
Dazu kommt, dass der Brexit Auswirkungen weit über das Vereinigte Königreich hinaus hat und haben wird. Während uns der Ausstieg aus der EU seit Monaten als endlose Folter mit keiner anderen Perspektive als dem Chaos präsentiert wurde, wird nun jeder Tag, der vergeht, ohne dass das Land im Abgrund versinkt, ein bitterer Widerruf dieser Propaganda sein.
Der Präsident der Bank of England (BoE), der Kanadier Mark Carney, war bereits im Referendumswahlkampf 2016 einer der unerbittlichsten Propheten der Apokalypse gewesen. Brummelnd hat er jetzt eingeräumt, dass « die Unsicherheiten abgenommen haben », während er aber behauptete, dass die wirtschaftliche Erholung « nicht gesichert ist ». Das ist schon eine kleine Entwicklung im Vergleich zu der sicheren Katastrophe… Der Mann hat gerade seinen Posten verlassen, um den amerikanischen Milliardär Michael Bloomberg als UN-Vertreter für das Klima zu ersetzen – ein weiterer Posten, auf dem er durch die Ankündigung der bekannten Katastrophen glänzen wird…
Also, ein Land kann aus der EU herauskommen, ohne in der Hölle zu schmoren. Für die europäischen Staats- und Regierungschefs wird dies zu einer sehr störenden Tatsache werden. In diesem Zusammenhang haben gerade die Staats- und Regierungschefs der EU einen zweijährigen Prozess der « Erneuerung » der EU eingeleitet, an dem die « europäischen Bürger » durch eine « große Debatte » à la Macron beteiligt werden sollen.
Großartig!