Ein Jahr nach Beginn des von niemand vorausgesehenen Aufstands, denkt der Pariser Vorsitzende der Gewerkschaft CGT über die Zukunft dieser Bewegung nach.
Von Benoît Martin, Generalsekretär der Gewerkschaft CGT (Confédération Générale du Travail) des Departements Paris.
Die Auslöser sind bekannt, vor allem die Frage der Kraftstoffpreise und insbesondere die inländische Verbrauchssteuer auf Energieprodukte. Dieses Problem ist auch ein Jahr später noch nicht gelöst. Autofahrer gelten nach wie vor als « dreckschleudernde Melkkühe ». Denn die Kraftstoffsteuern sind der Goldesel des Finanzministeriums. In den heutigen Zeiten der Mobilisierung für das Klima bleibt die Bestrafung des kleinen Verursachers eine vielversprechende politische Marktlücke. Aber niedrige Einkommen in Verbindung mit den zurück zu legenden Kilometern, die durch den Abbau von Arbeitsplätzen und öffentlichen Dienstleistungen erzwungen werden, bleiben eine unhaltbare Gleichung. Die von einer Sprecherin der Gelbwesten, Priscillia Ludosky, initiierte Petition « für eine Senkung der Kraftstoffpreise an der Pumpe » erhielt 1.256.000 Unterschriften. Ihre Forderungen haben die Menschen angesprochen, daher der Erfolg dieses Vorläufers der Gelbwestenbewegung.
Aber das ist noch nicht alles. Auch im Bereich der Steuerpolitik wurde die Abschaffung der Vermögenssteuer als unerträgliche Ungerechtigkeit angesehen. Dem schönfärberische Diskurs über die talentierten, wohlhabenden, genialen Erfinder und Arbeitsbeschaffer ist immer weniger glaubwürdig geworden. Und die ISF (Impôt sur la fortune, Vermögenssteuer) ist zu einem Katalysator für die Bewegung geworden.
Als aktives Mitglied der CGT sagte ich mir im Dezember 2018, dass die gewerkschaftlichen Steuerforderungen in den Parolen der Gelbwesten ein hervorragendes Echo gefunden hatten. Die CGT hatte in der Tat schon seit langem den Standpunkt vertreten, dass es notwendig sei, die Verbrauchssteuern zu senken und die Steuereinnahmen auf der Grundlage von Einkommen, Vermögen und Unternehmensgewinnen zu fördern. So einfach wie Guten Tag sagen und so effizient wie man es sich nur wünschen kann. Nur, dass ein großer Teil der Gewerkschaftsbewegung zu den Gelbwesten auf Distanz ging, obwohl objektiv die Forderungen ähnlich waren.
Ich dachte mir: » Das ist der Pöbel, da bin ich dabei! «
Auf den Kreiseln, deren Echo ich auf Facebook hörte, auf den Pariser Demonstrationen, an denen ich teilnahm, wurden das Thema Steuergerechtigkeit und der Wunsch nach einem bürgernahen und effizienten öffentlichen Dienst formuliert. Die Bewegung interessierte sich nicht nur dafür wie die Einnahmen des Staates zustande kommen, sondern auch dafür wie sie ausgegeben werden. Unter Proletariern und Kleinhandwerkern fand eine Bürgerdebatte über die Form des PLF (Projet de loi de finances, Finanzierungsgesetz) statt. Ich dachte mir: „Das ist der Pöbel, da ich bin dabei!“ (1). Mitte Dezember entschied der Generalausschuss der CGT-Abteilung des Departements von Paris, es sei angebracht, mit den Gelbwesten in Kontakt zu treten, um zu sehen, was wir gemeinsam tun könnten.
Die Bewegung der Gelbwesten ist in einer französischen Gesellschaft entstanden, die schlummern zu sein schien. Diese Gesellschaft ist jedoch von zunehmenden Ungleichheiten und vielfachem sozialem Abstieg betroffen. Achtzehn Monate vor Beginn der Gelbwestenbewegung schien sich die politische Landschaft jedoch neu formiert zu haben. Mit der Ausnahme, dass der neu gewählte Präsident der Republik die Kontinuität des Neoliberalismus verkörperte, nachdem sich jahrzehntelang die Linke wie die Rechte abwechselnd mit derselben Politik diskreditiert hatten.
Emmanuel Macron wurde von der Oligarchie gewählt, seine Politik ist die der Europäischen Union
Emmanuel Macron ist die Synthese seiner beiden Vorgänger; dieser Plutokrat wurde von der Oligarchie gewählt. Ihre Politik ist die der Europäischen Union; nichts Neues am Horizont… Doch am 23. Juni 2016 beschloss das britische Volk, die EU zu verlassen. Dieses wichtige Ereignis fand statt ein Jahr nachdem der damalige griechische Premierminister die Durchführung eines Referendums über die Sparpolitik Brüssels angekündigt hatte. Die Griechen wählten massiv gegen diese Sparpolitik – die wurde trotzdem durchgesetzt!
Der Rücktritt des Elysée-Bewohners ist heutzutage in Frankreich eine Forderung, die aus dem Volk kommt. Die Verantwortung und die Rolle der grossen Arbeitgeber wurden aber leider verschwiegen. Auf Emmanuel Macron wird mit dem Finger gezeigt, aber vergessen wir nicht Ursula Von der Leyen und Christine Lagarde!
Denn wo stossen die Forderungen nach höheren Löhnen, mehr Beschäftigung und öffentlichen Dienstleistungen auf Widerstand, wenn nicht an der EU-Mauer? Es ist sehr nützlich, die im Juni 2018 und im Juni 2019 ausgearbeiteten allgemeinen Grundzüge der Wirtschaftspolitik der EU für Frankreich zu lesen. Das ist sehr aufschlussreich. Privatisierung, Kürzung der öffentlichen Ausgaben, Steuererleichterung für die Reichen und die Unternehmen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Reform der Renten: Da steht das alles!
Eine Volksbewegung statt zwischengeschaltete Interessengruppen
Zur Demokratie, zu Fragen der Machtdelegation und zu den Zwischenorganen hat die Gelbwestenbewegung eine Fülle von sehr interessanten Vorschlägen gemacht, die Teil einer langen, auf die Zeiten der Monarchie folgenden Geschichte sind:
Anstelle von Gesetzen, die von gewählten Amtsträgern verabschiedet wurden, ein Volksreferendum (RIC) (2).
Eine Volksbewegung und keine zwischengeschalteten Interessengruppen.
Eine Botschaft, die von der Bewegung und nicht von einem Sprecher ausgeht.
Die wiedergefundene mitmenschliche Brüderlichkeit anstelle von Kandidaten für die Europawahlen….
Das vergangene Jahr wäre fast zu einem verfassungsgebenden Jahr geworden. Schade, dass dies nicht gelungen ist. Aber ich weiß, dass Gruppen von Gelbwesten weiterhin an diesen Themen arbeiten. Sich eine von Grund auf neue Verfassung auszudenken, kann dazu führen, dass theoretische Rechte von der Art wie die Präambel von 1946 unserer Verfassung, neu geschrieben werden, ja, dass sogar die Vorstellungen der Pariser Kommune wieder aufgenommen werden, und vielleicht sogar zu politischen Erneuerungen führen.
Was wird nun aus der Gelbwestenbewegung, gegen die die Regierung eine blutige Repression ausübt, weil sie um jeden Preis ihre Strukturreformen durchsetzen will? Zu erwarten ist sowohl kollektives als auch individuelles Handeln. Die Bewegung ist nicht am Ende. Sie wird ihre Aktionsmöglichkeiten diversifizieren. Es wird sicher radikale Formen von Engagement geben sowohl kollektive wie individuelle und es werden neue, kleinere Gruppen entstehen. Bäuerliche Gruppen, die sich sowohl des sozialen Abstiegs, dessen Opfer sie sind, bewusst sind, wie auch der Möglichkeiten, die ihnen ihr Land bietet, werden ihre assoziativen und genossenschaftlichen Erfahrungen vervielfachen. Einzelpersonen und Gruppen werden sich in den Kommunalwahlkampf einbringen. Andererseits, so sehr sich auch viele politische Parteien dafür entschieden haben, in die Bewegung einzutauchen, so wenige Gelbwesten werden sich dafür entscheiden, bei den Parteien mitzumachen. Das Entstehen einer politischen Partei, die die Gelbwesten vereint, ist unwahrscheinlich. Eine Form von « bunter und parteiloser Bewegung » wird sich durchsetzen.
Die Bewegung der Gelbwesten ist Realität. Sie ist nicht perfekt, aber trotz einer gewissen Desorganisation kann sie zielstrebiger und auf jeden Fall mutiger und subversiver sein als die meisten Unternehmungen dieser Art. Nichts desto weniger wird das Zusammengehen des gewerkschaftlichen Kampfes und der Bewegung der Gelbwesten entscheidend sein: Der Streik bleibt eine wichtige Waffe gegenüber Regierung und Arbeitgebern. Auch Verbände, die sich für die Verwirklichung von Grundrechten und die Erfüllung von Grundbedürfnissen einsetzen, sind ebenfalls willkommen. In der Zukunft stellen sich dann zwei wesentliche Fragen: die Formulierung eines Forderungskatalogs und die Ausarbeitung einer Strategie für die Bewegung.
Ich habe einige Meinungen in der Gelbwestenbewegung, bei der ich seit dem Anfang mitmache, wahrgenommen. Darunter welche, die gegen die Gewerkschaften sind, gegen Streiks, gegen Sozialversicherungsbeiträge!
Nach dem verpassten Schulterschluss mit der Gewerkschaftsbewegung, insbesondere am 1. Mai, könnte der 5. Dezember 2019 (3) der Beginn einer Periode der Vereinigung aller verfügbaren Kräfte sein auf der Grundlage eines gemeinsamen Forderungskatalogs einschließlich dem Ziel, die Regierung zur Aufgabe des Rentenreformprojekts zu bewegen?
(1) revolutionäres Lied, berühmt geworden durch die Pariser Kommune von 1871.
(2) Volksreferendum nach Initiative der Bürger (im Unterschied zum Präsidentenreferendum auf Initiative des Präsidenten, das es seit Beginn in der Verfassung der V. Republik gibt).
(3) Geplanter Streik gegen Rentereform, der massiv sein könnte
Die im Bereich „Meinungen“ veröffentlichten Analysen sind Diskussionsbeiträge. Sie stehen nicht in der Verantwortung der Redaktion.
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