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Britischer Impfstoff und europäische Ressentiments

AstraZeneca



Angesichts einer buchstäblich beispiellosen Pandemie sollte den Regierungen das Recht auf Irrtümer zugestanden werden. Doch die unglaubliche Entscheidung vom 15. März liegt auf einer ganz anderen Ebene. An diesem Tag setzten unter anderem Deutschland und Frankreich die Verwendung des anglo-schwedischen Impfstoffs von AstraZeneca aus, weil einige Fälle von Thrombosen festgestellt worden waren. In Wirklichkeit gab es kaum Zusammenhang mit der Injektion: Von 17 Millionen Menschen, die eine Dosis des von der Universität Oxford entwickelten Impfstoffs erhielten, wurden 37 Fälle registriert, ein geringerer Anteil als in der nicht geimpften Bevölkerung. Diese einfache Tatsache sollte das Vakzin entlastet haben. Doch erst am 19. März, als sich die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) auf die bereits von der WHO erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse berief, hoben die meisten Hauptstädte, darunter Paris und Berlin, das Verbot auf.

Anfang März lautete die Parole im Elysée-Palast noch, das Tempo um jeden Preis zu beschleunigen, denn es stimmt, dass die Impfung der einzige Ausweg aus der Gesundheitskrise ist. In dem besorgniserregenden Wettlauf gegen die Epidemie bedeutet jedoch jeder Tag Verzögerung verlorene Menschenleben. Schlimmer noch: Die Kehrtwende der Regierung, auch wenn sie nur vorübergehend war, führte zu neuer Verwirrung und schürte damit erneut das Misstrauen, in grossen Teilen der Bevölkerung.

Drei Faktoren könnten bei dieser unverantwortlichen Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Der erste ist das « Vorsorgeprinzip » (ein Begriff, der sich in diesem Zusammenhang wie schwarzer Humor anhört), in dessen Namen jeder wissenschaftliche oder technische Fortschritt von der vorherigen Antizipation aller möglichen Folgen abhängig gemacht werden soll. Wir würden immer noch in Höhlen leben, wenn unsere entfernten Vorfahren dieser seltsamen Weisheit gefolgt wären.

Der zweite Faktor ist europäischer Natur. Ausnahmsweise hat die Kommission nichts damit zu tun. Die Führer sind so sehr von der Idee der europäischen Integration durchdrungen, dass sich der Herdengeist, wie bei den Schafen, von selbst entfaltet. So berichtet Le Monde (17.03.21) über den Tag des 15. März: « Nach Dänemark, Norwegen, den Niederlanden und Island hat die Entscheidung Deutschlands, die Verwendung dieses Impfstoffs auszusetzen, alles mitgerissen. ‚Die deutsche Kehrtwende hat es uns nicht erlaubt, zu warten’, seufzte ein Minister« . Was Pieyre-Alexandre Anglade, ein dem Elysée nahestehender Abgeordneter, offenherzig zusammenfasst: « Unsere Strategie ist europäisch, es ist normal, sich in diesen Rahmen zu stellen“. Das sagt alles. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass einige osteuropäische Länder und Belgien nicht gefolgt sind, wobei der belgische Gesundheitsminister sogar sarkastisch darauf hinwies, dass, wenn seine Kollegen überschüssigen Impfstoff hätten, er ihn gerne nehmen würde…

Der dritte Faktor besteht aus einer Hypothese, die in der Presse jenseits des Kanals die Runde macht: Der britische Impfstoff hätte den Preis für europäische Ressentiments gegen den Brexit bezahlt. Ein Ressentiment, das durch den spektakulären Erfolg des Vereinigten Königreichs geschürt wurde, das wieder einmal seine Unabhängigkeit zeigte, gerade in Bezug auf die Impfkampagne. Wo die EU, geplagt von ihrer Schwerfälligkeit, kläglich hinterherhinkt.

Der Impfstoff Wirkstoff von AstraZeneca war kaum entwickelt, da wurde auch schon seine Wirksamkeit in Frage gestellt. Dann, nach der Zulassung durch die EMA, gab es Gerüchte, vor allem in Berlin und Paris, dass es Menschen über 65 nicht schützen würde – eine These, die auch von Emmanuel Macron vertreten wurde – bevor die Ergebnisse englischer und schottischer Feldversuche das Gegenteil bewiesen. Schließlich wurde der Firma – die dank öffentlicher britischer Subventionen zum Selbstkostenpreis (1,72 €, im Vergleich zu 15 € bei Moderna) an einzelne Staaten verkauft – vorgeworfen, hauptsächlich nach Großbritannien zu liefern. Ein unverzeihliches Verbrechen, bei dem die Europäische Kommission droht, den Export der auf dem Kontinent produzierten Fläschchen zu blockieren.

Andererseits hat Brüssel gerade zwei Verfahren gegen London eingeleitet, weil es die Übergangsfrist einseitig um sechs Monate verlängert hat, in der die Briten Lebensmittel, die von Großbritannien nach Nordirland transportiert werden, nicht kontrollieren. Und die EU-Exekutive vervielfacht billige Schikanen, die von Meeresfrüchten bis zu Finanzprodukten reichen…

Die europäischen Führer verzeihen es London nicht, dass nach dem Austritt aus dem Club keine der vorhergesagten Katastrophen eingetreten ist. Und dass die britische Regierung sich frei fühlt, ihre eigene Politik zu verfolgen, von der Erhöhung der Steuern für Großunternehmen auf 25 % bis hin zum geopolitischen Schwenk in den asiatisch-pazifischen Raum. Gut oder schlecht? Das wird nun das Volk zu beurteilen haben.

Nicht Brüssel.

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