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Die Regelungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Grossbritannien umfassen 1.246 Seiten

Der am 24. Dezember paraphierte Vertrag umfasst ohne Anhänge 1 246 Seiten. Wie in jeder Verhandlung üblich, haben beide Parteien Zugeständnisse machen müssen. Boris Johnson hat jedoch die Prinzipien durchgesetzt, die für ihn am wichtigsten waren. Vor allem drei Punkte waren in den letzten Verhandlungswochen Gegenstand eines harten Kampfes: die Fischerei, die Wettbewerbsregeln und die Rolle des EU-Gerichtshofs.

Für den ersten Punkt ist eine Übergangszeit von fünfeinhalb Jahren vorgesehen, in der die EU-Fischer weiterhin in englischen Gewässern tätig sein können, aber schrittweise einen Teil ihrer derzeitigen Fangquoten an ihre britischen Kollegen abtreten werden, um bis Mitte 2026 eine 25%ige Rückübertragung der Rechte zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt – und das war das Ziel der Briten, die gerne eine kürzere Frist gehabt hätten – werden die Briten jährlich mit Brüssel über Quoten verhandeln. Dies hatten die Europäer auf jeden Fall vermeiden wollen: Sie verlangten Rechte auf Dauer. Am Ende wird es London freistehen, alles zurückzufordern – was sie natürlich nicht tun werden. Aber das Prinzip der Souveränität wird bestätigt.

Zweiter Punkt: Bis zum letzten Moment hat Brüssel versucht, Großbritannien zu zwingen, sich europäischen Regeln und Standards – fiskalisch, sozial, ökologisch – anzugleichen, mit der Begründung, dies dürfe den Briten nicht den Weg für « unlauteren Wettbewerb » öffnen. Die 27 EU-Staaten wollten sogar, dass London in Zukunft auch neue EU-Vorschriften automatisch übernimmt, wenn die EU sie erlässt. Dies wäre eine Forderung gewesen, die den Brexit faktisch seiner Existenzberechtigung beraubt hätte. Brüssel musste schließlich nachgeben.

Die Vereinbarung sieht vor, dass beide Seiten nicht auf die aktuell gültigen Regeln zurückgreifen. Außerdem wird es nicht die von den Europäern geforderte Rechtsangleichung geben, sondern eine Harmonisierung der Definitionen. Und wenn eine Seite der Meinung ist, dass die andere eine Handels- oder Investitionsregel einführt, die den Wettbewerb verzerren könnte, wird die Beschwerde einem gemeinsamen Ausschuss vorgelegt. Die geschädigte Partei wird das Recht haben, Vergeltungsmaßnahmen in Form von Zöllen zu ergreifen, um sich gegen den als unlauter empfundenen Wettbewerb zu schützen. Michel Barnier wollte das Recht auf sofortige Vergeltung durchsetzen; musste aber auch hier nachgeben.

Und für den Fall eines hartnäckigen Konflikts wird eine gemeinsame Schiedsstelle entscheiden, nicht der Gerichtshof der EU: Letzterer ist aus dem Spiel. Dies war eine zentrale Forderung der Briten, die nun auch in dieser dritten Frage gewonnen haben. Der EuGH wird ausnahmsweise eingeschaltet, wenn die Streitigkeit Nordirland betrifft, das zwar britisches Hoheitsgebiet ist, aber, wie in der Trennungsvereinbarung festgeschrieben, im europäischen Binnenmarkt bleibt.

Die Europäer drängten auch auf eine strenge Regelung der staatlichen Beihilfen, die London seinen Unternehmen gewähren könnte. Ein unabhängiges britisches Gremium wird eingerichtet, um Transparenz und Uebereinstimmung der Regelungen zu gewährleisten. Gegebenenfalls könnte ein Schiedsgerichtsverfahren ähnlich dem, das den Wettbewerb regelt, eingeleitet werden.

« London hat die Freiheit erlangt, anders zu sein »

Le Monde

Der Leitartikel in Le Monde (26.12.20) fasst die Ergebnisse dieser ausgedehnten Auseinandersetzung zusammen und stellt nicht ohne Bitterkeit fest: « London hat die Freiheit erlangt, anders zu sein ». Und profitiert dennoch – das war der grundlegende Zweck des Abkommens – von der Freiheit, « zollfrei » (Steuern) und quotenfrei » (Warenmengen) ein- und auszuführen. Ein hochrangiger EU-Beamter gab zu, dass das Ergebnis der Gespräche weit von den ursprünglichen Forderungen der EU entfernt ist und merkte an, dass das Abkommen mehr « Garantien » enthält als die mit Kanada oder Japan unterzeichneten.

Die Finanzmagnaten der City hingegen waren enttäuscht: Das Abkommen betrifft nicht ihre Finanzprodukte. Diese dürfen nicht mehr frei auf dem Kontinent verkauft werden: jedes Produkt braucht jetzt ein Erlaubniss, das Brüssel jederzeit widerrufen kann.

Was den Datentransfer betrifft (z.B. europäische Kunden, die im Internet bei britischen Lieferanten bestellen), wird Brüssel in vier Monaten überprüfen, ob Großbritannien die « Angemessenheit » der Regeln zur Gewährleistung des Datenschutzes eingehalten hat. In den Bereichen Justiz und Polizei wird sich das Vereinigte Königreich nicht an Eurojust und Europol beteiligen. Nachrichten- und Sicherheitsdaten werden nicht mehr in Echtzeit übertragen.

Entgegen dem ursprünglichen Willen der 27 EU-Staaten hat sich das Vereinigte Königreich auch dafür entschieden, sich à la carte an verschiedenen europäischen Projekten zu beteiligen – Forschung, Atomkraft, Satelliten usw. -, will aber nicht weiter an Erasmus teilnehmen, dem Studentenaustauschprogramm, das der Liebling von Brüssel ist. Offiziell aus Kostengründen, aber man kann sich vorstellen, dass Boris Johnson nicht begeistert war von der Idee, ein Projekt mitzufinanzieren, das stets die « europäischen Werte » preist. Ein britisches Programm, genannt Turing, soll auf globaler Ebene eingerichtet werden, insbesondere in Richtung des Commonwealth und der Vereinigten Staaten.

Da das Vereinigte Königreich die Kontrolle über seine Grenzen wiedererlangt, insbesondere im Hinblick auf seine Migrationspolitik, werden neue Reise- und Niederlassungsbedingungen für Staatsangehörige von EU-Ländern erlassen: Pässe (ohne Visa) für Touristen und Anforderungen an Arbeitsangebote und Einkommenshöhe für zukünftige Ausländer. Die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und Qualifikationen kann Gegenstand späterer Vereinbarungen sein.

Wenn der Handel zollfrei weitergehen soll, werden außerdem Zollerklärungen und bestimmte Kontrollen (vor allem phytosanitäre) wieder eingeführt. London hat jedoch eine sechsmonatige Gnadenfrist für eigene Importe angekündigt. Andererseits war Brüssel vom ersten Tag an sehr strikt, was zu einigen vorübergehenden Engpässen in den Supermärkten führte, insbesondere bei Produkten, die von Großbritannien nach Nordirland geliefert wurden. « Der Austritt aus dem Binnenmarkt hat automatisch unvermeidliche Konsequenzen », kommentierte Michel Barnier süffisant, zweifellos nicht böse über diese kleine Rache.

Die wiedererstandene Grenze unter dem Ärmelkanal versprach monströse Staus in den jeweiligen Häfen, so hatten es die Anti-Brexit-Kassandras verkündet: Wir würden das Desaster, das der Austritt aus der EU verursacht, endlich konkret erleben. Clément Beaune, der französische Staatssekretär für Europa – Paris hat sich bei allen Verhandlungen mit einer ultraharten Haltung gegenüber London hervorgetan – twitterte sogar das Foto eines gigantischen, zum Bersten vollen Lkw-Parkplatzes, der angeblich die Schließung der Grenzen symbolisieren soll. In Wirklichkeit handelte es sich um Lastwagen, die in England infolge der am 20. Dezember vom Kontinent beschlossenen plötzlichen Maßnahmen gegen das Corona-Virus blockiert wurden.

Doch am 1. Januar bemerkten die vielen an den Ufern des Kanals postierten Sondergesandten einen besonders flüssigen Verkehrsfluss. Und seither ist die Apokalypse immer noch nicht eingetreten…

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