Am 9. August fanden in Belarus (Weißrussland) Präsidentschaftswahlen statt. Die offiziellen Ergebnisse ergaben für den sich wieder zur Wahl stellenden Präsidenten Alexander Lukaschenko 80,1% der Stimmen (4 Punkte weniger als 2015) bei einer Wahlbeteiligung von 84%. Seine Hauptgegnerin, Swetlana Tichanowskaja, erhielt 10,1%.
Diese Zahlen sind eindeutig das Ergebnis eines Betrugs. Wenn man verschiedene Quellen gegeneinander abwägt, so hätten die beiden Kandidaten in der Tat vergleichbare Anteile der 7 Millionen registrierten Wähler erreichen müssen.
Die Bekanntgabe der Ergebnisse löste daher Demonstrationen aus, die nicht mehr abreissen. Aktuell versammeln sich jedes Wochenende Zehntausende von Bürgern, um den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen zu fordern. Diese Kundgebungen – in der Hauptstadt Minsk, aber auch in den Provinzen – haben regelmäßig zu Hunderten von Verhaftungen geführt. Pro-Lukaschenko-Aktivisten haben sich ebenfalls mobilisiert, wenn auch in viel geringerer Zahl.
Die anhaltenden Unruhen in der ehemaligen Sowjetrepublik sind neu. Der Staatschef führt den Vorsitz seit 1994, als er überraschend gewählt wurde und sich sowohl gegen die postsowjetischen Oligarchen, wie es sie damals in Russland und der Ukraine zu Hauf gab, als auch gegen die Kräfte stellte, die auf eine Annäherung an die Europäische Union drängten. Er versprach einen entschlossenen Kampf gegen die Korruption.
Viele waren ihm dankbar dafür, dass er die Ausplünderung des Landes durch Oligarchen verhinderte
In der Folge erfreute er sich lange Zeit eines breiten Rückhalts im Volk. Nachdem er eine persönliche, autoritäre und paternalistische Macht aufgebaut hatte, waren ihm viele dankbar dafür, dass er die Ausplünderung des Landes durch Oligarchen verhinderte und die stabile Zahlung von Renten und Gehältern sowie die Aufrechterhaltung des Sozialstaats und der öffentlichen Dienstleistungen sicherstellte (vgl. Bericht in BRN vom 26.03.2006).
Große Industriekomplexe aus der Sowjetzeit sind erhalten geblieben. Das Land verfügt nach wie vor über ein anerkanntes Potenzial für die Herstellung von schweren Lastkraftwagen, Bussen und Traktoren, für die Kaligewinnung und -verarbeitung, aber auch für wichtige High-Tech-Aktivitäten (auch im militärischen Bereich).
Doch gerade im letzten Jahrzehnt haben die unveränderte Dauer des sich an der Regierung befindenden Staatsoberhauptes, die überall gegenwärtige Macht, aber auch die stagnierende Kaufkraft die Popularität Lukaschenkos allmählich untergraben. Diese Entwicklung spürend, hat bei Loukaschenko zweifellos zu einer Vervielfachung… kontraproduktiver Initiativen geführt.
Erstens, indem er vor der Wahl behauptete, er wolle die Macht auf jeden Fall behalten; indem er zwei der potentiellen Kandidaten, die ihm hätten Stimmen abnehmen könnten (Frau Tichanowskaja ist die Frau eines von ihnen), inhaftierte; und indem er die Verhaftung russischer Paramilitärs inszenierte, die sich auf der Durchreise im Land befanden und denen er vorwarf, Teil eines Versuchs Moskaus zu sein, die Kontrolle über das Land übernehmen zu wollen. Eine Idee, die er einige Wochen später bitter bereute, denn sie endete mit der Verärgerung des großen russischen Bruders, mit dem Belarus – das die gleiche Kultur und Sprache hat, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und familiären Bindungen – 1999 noch einen Integrationsvertrag unterzeichnet hatte.
Dann die vielen Absurditäten nach der Wahl: durch die Bezeichnung von Gegnern, die seinen Abgang forderten, als « Ratten »; durch Auftritte im Fernsehen mit einer Kalaschnikow und einer kugelsicheren Weste; und vor allem durch die Orchestrierung einer besonders brutalen Repression der Kundgebungen der ersten Tage. Auf diese Weise gelang es ihm, einen Teil der Bevölkerung, der ihm zunächst nicht unbedingt feindlich gesinnt war, gegen sich aufzubringen.
Viele Beschäftigte, im Prinzip Anhänger der Regierung, schlossen sich den Mobilisierungen an
Von da an befand sich nicht mehr nur eine bestimmte verstädterte Mittelschicht auf der Straße. Viele Beschäftigte, im Prinzip Anhänger der Regierung, schlossen sich den Mobilisierungen an. Es gab auch einige Streiks in Fabriken, die der Präsident ursprünglich für loyal hielt.
Obwohl westliche Führer jahrelang belarussische NGOs finanziell gefördert haben und von der Entstehung einer für sie günstigen Opposition träumten, hatten sie eine solche Bewegung nicht kommen sehen. Letzteres brachte, anders als z.B. in der Ukraine, in keiner Weise eine Spaltung zwischen « pro-EU » und « pro-russischen » Kräften zu Tage. Bei den Demonstrationen gab es weder eine europäische Flagge noch einen Anti-Moskau-Slogan. Dies hielt den US-Außenminister jedoch in keiner Weise davon ab, die Europäer aufzufordern, sich « für die Freiheit des belarussischen Volkes » einzusetzen …
Am 14. August protestierten die Minister der 27 EU-Mitgliedsstaaten gegen die Repressionen, plädierten für einen « Dialog » zwischen der Regierung und dem in Minsk gebildeten Koordinierungsrat, um den Rücktrittt des Präsidenten zu fordern. Sie beschlossen Sanktionen gegen diejenigen, die für Betrug und Polizeigewalt verantwortlich seien. Trotz eines außerordentlichen Gipfels, der am 19. August per Videokonferenz abgehalten wurde, haben die 27 immer noch keine Einigung erzielt. Dies sollte auf dem für den 24. und 25. September geplanten Gipfel erneut auf der Tagesordnung stehen.
Unter den EU-Staaten stehen auf der einen Seite die Ultras, u.a. die baltischen Länder und insbesondere Litauen – welches Swetlana Tichanowskaja aufnahm, als sie noch am Tag nach den Wahlen dorthin geflohen war. Sie fordern weit reichende Sanktionen, auch gegen den Präsidenten selbst, und haben diese ihrerseits bereits beschlossen.
Doch Angela Merkel fordert, ebenso wie der Präsident des Europäischen Rates, weniger weitreichende Maßnahmen. Berlin will vermeiden, Minsk weiter in die Arme Moskaus zu treiben. Der französische Präsident möchte seinerseits vermeiden, den « Dialog ohne Naivität » zu untergraben, für den er sich seit einem Jahr zum großen Missfallen einiger seiner EU-Kollegen mit Russland einsetzt.
Es ist allen bewusst, dass aufgrund der engen Beziehungen, die zwischen Minsk und Moskau bestehen (einschließlich militärischer Beziehungen), Wladimir Putin nun die Trümpfe für eine Lösung in der Hand hält. Der russische Präsident erklärte von Anfang an, dass es Sache der Belarussen selbst sei, Lösungen zu finden. Er versprach jedoch, Russland werde im Falle sehr schwerwiegender Störungen der öffentlichen Ordnung eingreifen. Als er seinen belarussischen Amtskollegen am 14. September empfing, tat er so, als würde er sich nicht an die Anschuldigungen erinnern, die sein Amtskollege vor den Wahlen gegen ihn erhoben hatte, und versprach ein Darlehen von 1,5 Milliarden Dollar.
Es sei daran erinnert, dass die Entfernung zwischen Belarus und Moskau nur 500 km beträgt und dass der Westen schlecht beraten wäre, wenn er im « geopolitischen Kampf um den postsowjetischen Raum » punkten wollte, wie es der Chef der russischen Diplomatie, Sergej Lawrow, formulierte.
Der Kremlchef ist zweifellos nicht verärgert darüber, sich in der Position eines Helfers gegenüber einem Alexander Lukaschenko zu sehen, der sich in seinem Land nun in einer schwierigen Lage befindet, der aber seit zehn Jahren nicht aufgehört hat, einen irritierenden Balanceakt zwischen Ost und West zu vollführen.
Der belarussische Präsident vertraute vor kurzem den russischen Medien an, es könne sein, dass er vielleicht zu lange an der Macht geblieben sei
Der belarussische Präsident vertraute vor kurzem den russischen Medien an, es könne sein, dass er vielleicht zu lange an der Macht geblieben sei (unerwartete Reue…), und dass er zukünftige Wahlen nicht ausschließe, vorausgesetzt, dies geschähe im Rahmen einer neuen Verfassung. Sollte man sich darunter vorstellen, dass er sein Gesicht wahren will, indem er vorübergehend auf seinem Posten bleibt, aber schließlich vor dem Ende der Amtszeit verschwindet…?
Ein solches Szenario würde dem Kreml nicht unbedingt missfallen. Dies gilt umso mehr, als es in Minsk wahrscheinlich keinen Mangel an Bewerbern gibt, die für die Umsetzung einer weiteren Annäherung zwischen den beiden Ländern, wie sie im Vertrag von 1999 vorgesehen ist, eintreten.
Es bleibt abzuwarten, ob diese Annäherung zu einer verstärkten Zusammenarbeit oder zu einer Übernahme durch bestimmte russische Oligarchen führen kann, die nie einen Hehl aus ihrem Interesse an den bis heute bewahrten technologischen und industriellen Schätzen des Landes gemacht haben.
(Bericht am 18. September)